40 Fragen zum Alevitentum

  • Was ist das Alevitentum?

    Das Alevitentum ist ein Glaube, der sich in Anatolien entwickelt hat und ganz alte Traditionen in sich birgt. Das Alevitentum bezeichnet sich selbst als YOL, was man als „mystischen Weg“ übersetzten kann. Dabei ist das Ziel, dass der Mensch die Lehre der 4 Tore und 40 Stufen durchschreitet. Diese Tore sind Seriat (das Gesetz), Tarikat (der Weg), Marifet (das innere Wissen) und Hakikat (die göttliche Wahrheit). Jedes dieser Tore hat 10 Stufen, also 10 Regeln, die es zu beherzigen gilt. Wichtig ist, dass man im Einvernehmen mit sich selbst, seiner Umgebung (also seiner Familie, seiner Gemeinschaft und seiner Gesellschaft) lebt.

  • Wie beten wir Aleviten?

    „Üc Can bir Cem“ („Drei Seelen bilden ein Cem.“) – das Ayn-i Cem wird von Frauen und Männern gemeinsam und gleichberechtigt in einer Glaubenszeremonie ausgeführt und dabei von einer Ana (weibl.) oder einem Pir/Dede/Baba (männl.) geleitet. Die Mitglieder sitzen sich in Kreisform, also von Angesicht zu Angesicht, gegenüber (Cemal Cemale). Das Gesicht des Menschen ist nach alevitischer Lehre das Gesicht Haks. Es werden Gebete (Gülbenk) und Gedichte (Deyisler, Nefesler) heiliger alevitischer Persönlichkeiten rezitiert. Es kommt auch zum rituellen Tanz, dem Semah. Die Cem-Zeremonie spiegelt das Verständnis von Nächstenliebe, Gleichberechtigt und Einheit wieder.

  • Was ist ein Cem?

    Der Cem ist die religiöse Zeremonie der anatolischen Aleviten. Das Wort bedeutet Zusammenkommen. Entsprechend kommt beim Cem die Gemeinde zusammen du praktiziert bestimmte Rituale. Beim Cem werden Inhalte des Alevitentums an die Gemeinschaft vermittelt. Es gibt die sogenannten 12 Dienste (12 hizmet) und jeder Dienst vermittelt eine bestimmte Botschaft. Beim Cem sitzen die Aleviten im Kreis von Angesicht zu Angesicht (cemal cemale). Das soll symbolisieren, dass man als Ebenbild Gottes den Menschen vor sich hat. Das Sitzen in Kreisform steht für die Gleichstellung aller; keiner sitzt hinter keinem und es gibt keinen Anfang und kein Ende.

  • Wer waren die 40 Heiligen vom „Cem der 40“?

    Ein alevitisches Sprichwort sagt: „Aleviligin kalbi Cem´de atar. Aleviligin sirri Cem´de yatar.“ („Das Herz des Alevitentums schlägt im Cem. Das Geheimnis des Alevitentums liegt im Cem.“) Ein Cem steht nicht nur für eine religiöse Zeremonie, sondern stärkt auch den sozialen Zusammenhalt der Menschen untereinander. Zurückgeführt wird diese Zeremonie auf den Cem der 40 („Kirklar Cemi“), das im Buyruk beschrieben wird. Es gilt als die erste Cem-Zeremonie, bei der insgesamt 40 „Can“ (Seelen, Menschen) versammelt waren, davon 17 Frauen und 22 Männern. Namentlich bekannt sind der Heilige Pir Ali, der Prophet Muhammet, sowie Selman der Perser. Diese Figuren sind für uns wichtige Symbolfiguren.

  • Wie sieht die Rolle der Frau im Alevitentum aus?

    Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein Grundpfeiler des Alevitentums. Unser Glaube spricht allgemein vom Can (Seele) und unterscheidet damit nicht nach Mann oder Frau. Gleichzeitig impliziert dieser Gedanke, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Religion oder seinem ethnischen Hintergrund gleichwertig zu betrachten ist.

  • Was ist die Ritualsprache der Aleviten?

    Die Aleviten haben keine spezifische Ritualsprache. Wichtig ist es, dass sie die Sprache, die sie bei den religiösen Zeremonien benutzen, verstehen. Hierzu sagt der heilige Dichter Sah Ismail Hatayi: „Önemli olan Dil degildir, önemli olan niyetir“ (Wichtig ist nicht die Sprache, sondern die Absicht). In der Regel werden die Cems in der Türkei je nach Region auf Türkisch oder Kurdisch gehalten. Hier in Deutschland finden wir auch deutschsprachige Cems.

  • Stimmt es, dass die Aleviten die Moschee nicht besuchen, weil Hz. Ali in der Moschee umgebracht wurde?

    Nein, dies ist ein Ammenmärchen. Hz. Ali wurde nicht in der Moschee umgebracht, sondern nach den Überlieferungen vor seiner Haustür von dem Harijten Abdel Rahman Muljam. Nach alevitischer Überlieferung haben Aleviten nie Moscheen besucht. Man hat schon immer Versammlungen und Cems organisiert. Da die Aleviten aber unter muslimischer Herrschaft verfolgt wurden, haben sie als Schutzmechanismus diese Geschichten erfunden, damit sie Ausreden hatten, warum sie nicht in die Moscheen gehen.

  • Was bedeutet Gülbenk?

    Ein Gülbenk ist ein alevitisches Gebet bzw. eine Fürbitte. Das Wort setzt sich zusammen aus Gül (Rose) und bank oder benk (der Ruf). Es bedeutet also Rosenruf. Weil die alevitischen Gebete ein sprachliche Schönheit haben, nennt man diese Gebete so. Zu verschiedenen Ritualen gibt es jeweils unterschiedliche Gülbenks. So finden wir z. B. das „Semah Gülbenki“, das „Sofra Gülbenki“ oder das „Lokma Gülbenki“.

  • Was ist ein Lokma?

    Ein Lokma ist eine gesegnete Gabe. Sie wird in Form von Backwaren, Essen, Speisen und Getränken an Bedürftige, Alte, Arme, aber auch an die Nachbarn verteilt oder als wohltätige Spende getätigt. Da die Absicht (Niyet) dahinter ein solidarischer Zweck ist, wird es Lokma genannt. Ein Lokma wird in der Regel zu einem bestimmten Anlass verteilt. So nimmt man beispielweise auch beim Cem-Ritual ein Lokma mit. Darüber hinaus verteilt man das Lokma gerade zu Fastenzeit oder an religiösen Tagen. Zusätzlich zu diesen Anlässen werden das ganze Jahr über Lokmas verteilt.

  • Was bedeutet Ana, Pir, Dede und Baba?

    Die Gemeinschaft der Aleviten kann man in zwei Gruppen unterteilen. Die größere Gruppe bilden die die Talips, die Laien. Die Talips erhalten ihr religiöses Wissen von den Geistlichen, die wir in Ana (weiblich) oder Dede/Baba (männl.) unterteilen. Je nach religiösem Rang fungieren diese als Rehber, Pir oder Mürsit. Die Gruppe der Geistlichen stammt aus heiligen Ordensfamilien (Ocaks), d. h. dass nur Angehörige dieser Familien Geistliche werden können. Beispiele für einen Ocak: Aguicen, Hubyar, Baba Mansur, Sarisaltik, Üryan Hizir, Kureys, Güvenc Abdal, Dervis Cemal, Sinemilli usw.

  • Wie weiß ich als Alevite, was recht und was unrecht ist?

    Im Allgemeinen sieht die alevitische Lehre vor, dass der Mensch nach dem „Hak-Prinzip“ lebt. Das bedeutet, dass er alle Menschen unabhängig von Ihrer Ethnie, Religion und Sexualität als gleichwertig betrachtet und behandelt. Der Einsatz für Gerechtigkeit und für den Frieden sind wesentliche und grundlegende Merkmale der alevitischen Lehre.

  • An was glauben die Aleviten nach dem Tod?

    „Ölür ise Ten ölür Canlar ölesi degil“ („Der Körper stirbt, die Seele ist unsterblich.“) – so der Dichter Yununs Emre. Im Alevitentum gibt es den ewigen Kreislauf des Lebens. Es stirbt nur der Körper (die organische Existenz – Ten), die „Seele“ – Can – des Menschen stirbt jedoch nicht, sondern nimmt eine andere Gestalt an, indem sie in einen anderen Körper übergeht und eine neue Existenz beginnt. Der wirkliche Tod erfolgt für Aleviten erst dann, wenn die „Seele“ (Can) stirbt.

  • Glauben wir an Himmel oder Hölle?

    Aleviten glauben nicht an einen Himmel bzw. eine Hölle. Im Alevitentum gilt der Mensch selbst als Erlöser (vgl. „Ana´l Haqq“ – „Ich bin die Wahrheit“). Nach alevitischem Verständnis trägt er somit für sich selbst und für alles Leben auf der Erde die Verantwortung. Diese übernimmt er nach der alevitischen Lehre im „Diesseits“. Für Aleviten gibt es die Vorstellung eines „Lebens nach dem Tod“ und damit eines „Jenseits“ in Form eines Himmels oder einer Hölle nicht, weil nach dem Tod des Körpers die Seele weiterlebt und weiterwandert zu einem neuen Körper.

  • Glauben wir Aleviten an die Seelenwanderung?

    Nach der alevitischen Lehre verlässt die „Seele“ (Can) nach dem Tod des „Körpers“ (Ten), diese irdische Hülle und nimmt eine andere Gestalt an, indem sie in einen anderen Körper übergeht. Der Geist wird nach alevitischem Glauben somit wiedergeboren, bis er das vierte Tor des mystischen Weges der Vervollkommnung, genannt Hakikat („göttliche Wahrheit“), erreicht. Hat sie dieses Stadium der Vervollkommnung erreicht, wird sie wieder eins mit dem göttlichen Licht, aus dem sie einst hervorgegangen war.

  • Wie ist es zu verstehen, dass Gott in unserer Mitte, bzw. in uns selbst ist?

    Im Alevitentum steht der Mensch im Zentrum der Lehre. Das Alevitentum hat somit ein anderes Menschen- und Gottesbild als beispielsweise das Judentum, das Christentum oder der Islam. Hak – die „göttliche Wahrheit“ – befindet sich nach alevitischem Verständnis im Menschen selbst. Dieser humanistische Kern wird durch alevitische Gelehrte so beschrieben: „Andere haben die Kaaba (Heiligtum der Muslime in Mekka), meine Kaaba ist der Mensch, sowohl Koran als auch Erlöser, ist der Mensch, die Menschheit selbst.“ Und ein weiterer alevitischer Heiliger, Hallac-i Mansur sagte: „Ana´l Haqq – Ich bin Gott.“ Für die Aleviten ist Haqq nicht nur im Menschen, sondern im gesamten Kosmos wiederzufinden. In dem pantheistischen Alevitentum findet sich die Lehre des wahdat al-mawdschud wieder. Dazu schrieb der anatolische Asik Daimi: „Ich bin der Spiegel des Universums, wenn ich doch ein Mensch bin. Ich bin der Ozean der Wahrheit, wenn ich doch ein Mensch bin.“

  • Gibt es eine alevitische Schöpfungsgeschichte?

    Nach der alevitischen Schöpfungsgeschichte schuf Hak („Gott“) eine Perle, aus der das göttliche Licht hervorging und in Weiß und Grün strahlte. Aus diesem göttlichen Licht ist die Schöpfung entstanden. Deswegen hat das Licht (sowie die Sonne, die Sterne und der Mond) im Alevitentum eine zentrale Bedeutung und steht symbolisch immer auch für die Göttlichkeit. Bezugsnahmen auf dieses göttliche Licht finden sich deshalb in vielen alevitischen Dichtungen (Deyis).

  • Was bedeutet Insan-i Kamil?

    Insan-i Kamil bedeutet „der vollkommene Mensch“. Der Sinn, der hinter dieser Begrifflichkeit steckt, ist, dass jeder Mensch danach streben soll, die Vervollkommnung zu erreichen. Die Lehre der 4 Tore und 40 Stufen soll den Menschen dabei helfen, die Vervollkommnung zu erreichen. Erst wenn der Mensch sich an diese Regeln hält, kann er die Vervollkommnung, also das Stadium des Insan-i Kamil erreichen. Wichtig ist hierbei, nach diesem Weg zu streben, um das Ziel zu erreichen.

  • Was bedeutet Ikrar?

    Ikrar bedeutet Gelübde, d. h. man legt ein Gelübde / Versprechen ab und hält sich an sein Wort. So gibt es verschiedene Formen eines Ikrars, z. B. wenn man sich als Laie einem Rehber, Pir oder Mürsit anschließt oder auch wenn zwei Familien eine Weggemeinschaft (Müsahiplik) oder eine Patenschaft (Kirvelik) eingehen. Diese Gelübde werden vor der versammelten Gemeinde abgelegt. Es gibt verschiedene Symboliken, die für das Ikrar stehen. Ein abgelegtes Ikrar wird oftmals auch symbolisch dargestellt, so etwa durch das gegenseitige Anlegen eines Gürtels (kemerbest) während der Cem-Zeremonie oder auch durch einen Apfel. Es ist wichtig, sich an diese Gelübde zu halten, deshalb heißt es auch „Öl ama ikrar verme, öl ama ikarindan dönme“. Im übertragenen Sinne bedeutet dies soviel wie: „Das Sterben ist einfacher als ein Ikrar abzulegen, das Sterben ist einfacher als von seinem Ikrar abzuweichen“.

  • Was bedeutet Müsahiplik?

    Das Wort „Müsahiplik“ hat einen sehr zentralen Stellenwert im Alevitentum. Es ist ein elementarer Bestandteil des alevitischen Glaubens und bezeichnet die sogenannte „Weggemeinschaft“. Zwei Ehepaare, die sich sehr gut verstehen, legen dabei ein Gelübde (Ikrar) ab und bezeugen bei der Cem-Zeremonie vor der Gemeinde, dass sie eine „Weggemeinschaft“ eingehen. Dies bedeutet, dass sie vor der Gemeinde einen Eid ablegen, dass sie sich in guten wie in schlechten Zeiten immer unterstützen werden und damit ihren weiteren Lebensweg gemeinsam gehen werden. Diese Art der Solidargemeinschaft hat im Alevitentum das Ziel, die Menschen zur Nächstenliebe und Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen zu animieren. Die eingegangene Gemeinschaft verpflichtet die beiden Familien und ihre Nachfahren zudem, für die Dauer von sieben Generationen nicht untereinander zu heiraten.

  • Was bedeutet Kivrelik?

    Das alevitische Ritual „Kivrelik“ steht im engen Zusammenhang mit der auch im Alevitentum üblichen Beschneidung bei Jungen. Die Tradition, dass kleine Jungen beschnitten werden, ist im Orient weit verbreitet: Sie findet sich bei Yeziden, Juden, Zoroastriern und Muslimen gleichermaßen. Bei den Aleviten hat sich das Beschneidungsritual mit dem Eingehen einer Patenschaft zwischen zwei Familien, genannt Kivrelik, etabliert. Diese Patenschaft besiegelt man mit einem Gelübde (Ikrar). Der Junge, der beschnitte wird, bekommt dabei eine Art Patenonkel, also einen Kivre (lokal auch Kivra). Er unterstützt- neben den Eltern – die Erziehung des Kindes und begleitet den Heranwachsenden auf seinem Weg. Durch die eingegangene Patenschaft werden die beiden Familien ähnlich wie beim „Müsahiplik“ zu einer Gemeinschaft und auch hier ist es ihnen für einen Zeitraum von sieben Generationen nicht erlaubt, untereinander zu heiraten.

  • In welchem Zusammenhang steht das Alevitentum zum Yezidentum?

    Sowohl das Alevitentum als auch das Yezidentum sind geprägt von den alten religiösen Vorstellungen des Orients. Das Eingehen religiöser Patenschaften, die Schöpfungsgeschichte, die Verehrung des Lichtes (Sonne, Mond), die Unterteilung der Gemeinschaft in Geistliche und Laien sowie weitere Elemente sind bei beiden Religionsgemeinschaften sehr ähnlich. Eine weitere Gemeinsamkeit bildet leider auch die Verfolgungsgeschichte der Yeziden und Aleviten. Über Jahrhunderte mussten Yeziden und Aleviten ihre Identität verbergen und haben zurückgezogen in Bergregionen gelebt.

  • Wie steht das Alevitentum zur Natur?

    Die Natur ist das wichtigste Gut im Alevitentum, denn sie gehört zur Schöpfung und somit auch zur Gottesvorstellung im Alevitentum. So sagte der heilige Dichter Yunus „Der Schöpfer offenbart sich in der Schöpfung“. Aus diesem Grund ist es die Pflicht jedes Aleviten, die Natur zu schützen. Die Nachhaltigkeit im Umgang mit der Natur wird in vielen Muhabbets (Beisammensein-Gesprächen) und Cems immer wieder erwähnt. Auch in vielen alevitischen Texten finden wir Hinweise dafür, dass die Natur geschützt werden muss. Heiligenstätten in der Natur finden sich in allen Regionen, in den Aleviten leben. Diese heiligen Berge, Bäume oder Wasserstätten werden als Ziyarets (wörtlich: Besucherstätte) bezeichnet.

  • Die Literatur zum Alevitentum ist in erster Linie in türkischer Sprache (aserbaichanisches Türkisch) erhalten. Gibt es auch kurdische Literatur über das Alevitentum?

    Ja, es gibt sehr viele Literatur in kurdischer Sprache seit der Gründung der Türkischen Republik offiziell verboten, so dass viele Werke in kurdischer Sprache versteckt gehalten wurden. Nachdem die Aleviten begonnen hatten, sich zu organisieren und mehr und mehr zu emanzipieren, kommen diese Werke nun wieder zum Vorschein und viele bislang nur mündlich weitergegebene Traditionen werden nun auch wieder vermehrt in kurdischer Sprache niedergeschrieben.

  • Welche heiligen Schriften kennt das Alevitentum?

    Das Alevitentum ist ein Glaube, der in erster Linie mündlich weitergegeben wurde. Dies hat historische Gründe. Über mündliche Dichtungen (türk. deyis, nefes, beyit) wurde das religiöse Wissen an die Gemeinschaft weitergegeben. Die Geistlichen (Ana, Pir, Dede, Baba, Rehber) hingegen haben traditionell ihr Wissen auch aus heiligen Schriften erhalten. Zu diesen Schriften zählen u.a. die Buyruk, das Makalat, die Vilayetname von Heiligen und Gedichtsammlungen. Diese Schriften wurden von ihnen in ihren jeweiligen Kontext eingeordnet und interpretiert. Nachdem sie die Symboliken und Botschaften gedeutet haben, gaben die Geistlichen dieses Wissen bei religiösen Zusammenkünften und den sogenannten Muhabbets (Beisammensein) an die Gemeinschaft (Talips) weiter.

  • Wieso hängen in Cem-Häusern Porträts von Mustafa Kemal Atatürk?

    Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk führte den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, ein – dies glaubten zumindest die Aleviten bis in die 1990er Jahre. So verehrten ihn viele Aleviten für seinen Einsatz für eine moderne Gesellschaft. Gleichermaßen versuchte man, sich durch das offene Bekenntnis zu ihm als Teil des Staatsgebildes darzustellen. Natürlich gab es auch kritische Aleviten, die ihre Kritik entweder nicht zeigen konnten oder deswegen diskriminiert und verfolgt wurden. Erst mit der kritischen Auseinandersetzung der Geschichte der türkischen Republik gewannen die Aleviten neuere Erkenntnisse. Die Türkei ist weder laizistisch noch hat sich die Situation des Alevitentums mit der Gründung der Republik gebessert. Immer mehr Aleviten treten daher heute dafür ein, dass politische Figuren im privaten Leben gehuldigt werden sollten und nicht in den Cem-Häusern.

  • Wie viele Aleviten gibt es?

    Es ist schwierig, einen genauen Wert bezüglich der Anzahl der Aleviten zu nennen, da diese Frage in der Türkei als Politikum betrachtet wird. Man geht grundsätzlich davon aus, dass es dort mehr als 20 Millionen Aleviten gibt. In Deutschland leben mehr als 700.000 Aleviten.

  • Was ist der Unterschied zwischen den Aleviten und den Alawiten?

    Zunächst muss man hier verstehen, dass die Aleviten und Alawiten zwei verschiedene Religionsgemeinschaften sind. Diese Religionsgemeinschaften haben ihre eigenen theologischen Vorstellungen und ihre Rituale. Dennoch muss man wissen, dass es auch Gemeinsamkeiten, wie z. B. die Verehrung des Heiligen Ali, gibt. Beide Gruppen wurden im Osmanischen Reich von den Machthabern aufgrund ihre Verehrung des Heiligen Ali als Ali-Anhänger bezeichnet. So hat sich mit der Zeit für die anatolischen Kizilbas und Bektasi der Terminus Aleviten und für die Alawiten im heutigen Syrien der Begriff Alawiyun bzw. Alawiten durchgesetzt.

  • Was ist der Unterschied zwischen Aleviten und Bektaschiten?

    Der Unterschied von Aleviten und Bektaschiten liegt nur in der Organisationsform, nicht aber in der Glaubenslehre. Die religiösen Vorstellungen von der Schöpfungsmythologie, der Philosophie des Glaubens, dem Menschen- und Gottesbild, der Wahrnehmung anderer Religionen usw. sind in beiden Gruppen gleich. Die Aleviten sind in der Regel Nachkommen der Kizilbas, der Tahtaci und weiterer Gruppierungen, während die Bektaschiten Nachkommen von Anhängern des Bektaschi-Ordens sind. Da beide heute verschmolzen sind zu einer Gruppe, spricht man auch von Alevi-Bektasi.

  • Wer ist Hünkar Bektas Veli?

    Hünkar Bektas Veli ist ein Heiliger, der aus der Stadt Nischabur im Ostiran (Horosan) stammt. Sein vollständiger Name lautet Hünkar Bektas Veli Piri Horosani Nischaburi, woraus man diesen Herkunftsort ableiten kann. Er wanderte im 13. Jahrhundert von seiner Heimat Horosan nach Anatolien und gründete dort, im zentralanatolischen Karacahöyük, ein mystisches Zentrum, da bis heute unter dem Namen Hünkar Bektas Veli Dergahi erhalten geblieben ist. Hünkar Bektas Veli lebte in einer Zeit, in der es in Anatolien sehr viele Religionskriege gab, bei denen sich die vielen unterschiedlichen religiösen Gruppierungen untereinander bekämpfte. Hünkar Bektas Veli begann in dieser Zeit unter ihnen den Frieden zu predigen und verkündete den Menschen immer wieder Botschaften, wie „Das Gemeinsame ist das Menschsein.“ Weil er sich bereits in der damaligen Zeit in ganz Anatolien für ein friedliches Miteinander einsetzte, finden wir heute vor allen Dingen Beschreibungen und Bilder von ihm, die friedvolle Symboliken enthalten. Für das Alevitentum ist er mit seinen Botschaften und seinem Wirken eine der prägendsten Figuren.

  • Wer ist Sah Ismail?

    Sah Ismail ist der Begründer der Safawiden-Dynastie im Iran. Er ließ sich im Jahr 1501 in der Stadt Tebris zum Schah Krönen. Der Name Safawiyya geht auf einen Vorfahren von Sah Ismail zurück. Die Staatsreligion bei den Safawiden war das Kizilbastum. Daher hat der safawidische Sah Ismail sehr viele Gedichte zur Kizilbas-Lehre geschrieben. Heute noch werden in Anatolien sehr viele Deyis (Dichtungen) auf ihn zurückgeführt. Sah Ismail bezeichnet sich selbst in seinen Dichtungen mit dem Pseudonym „Hatayi“, also der Fehlerhafte. Daher sind in Anatolien eher die Namen „Sah Hatayi“ bzw.j „Sah Ismail Hatayi“ gängig. Bis heute sind Hunderte von seinen Gedichten erhalten geblieben und werden insbesondere bei alevitischen Cem-Ritualen rezitiert.

  • Worin unterscheidet sich das Alevitentum grundlegend vom Christentum, Judentum und dem Islam?

    Das Alevitentum hat im Vergleich zum Christentum, Judentum und Islam keinen Absolutheitsanspruch. D. h. das Alevitentum sieht sich nicht als die einzig wahre Religion an, sondern betrachtet jede Religion als gleichwertig. Auch atheistische Einstellungen werden bei den Aleviten als gleichwertig zu religiösen Vorstellungen betrachtet. Es gilt das Prinzip, dass 72 Völker (72 Völker stehen für die gesamte Menschheit) gleich sind. Darüber hinaus hat der Koran denselben Stellenwert wie die Bibel, die Thora und die Psalmen (dört kitap hak). Das soll nochmals die Gleichwertigkeit aller Religionsgemeinschaften demonstrieren.

  • Sind Aleviten Muslime?

    Das Alevitentum ist eine eigenständige Religionsgemeinschaft. Über die Rituale, Praktiken, den Inhalten des Glaubens usw. sind sich alle Aleviten einig. Allerdings ist die Geschichte der Aleviten geprägt durch Verfolgung und Vernichtung; aus diesem Grund hielten Aleviten über Jahrhunderte hinweg ihren Glauben und ihre Identität geheim. Im Verlaufe der Zeit führte dies dazu, dass regional unterschiedliche Definitionen in Bezug auf die Zugehörigkeit zum Islam entstanden sind. So finden wir heute Aleviten, die sich als Muslime verstehen, aber auch viele Aleviten, die sich vom Islam distanzieren.

  • Welche Feier- und Gedenktage haben die Aleviten?

    s gibt verschiedene feste und bewegliche Feier- und Gedenktage bei den Aleviten. Das Jahr beginnt zunächst mit dem so genannten Hizir-Monat, der sich nach dem julianischen Kalender richtet. Nach unserer Zeitrechnung beginnt der Hizir-Monat am 14. Januar und endet am 15. Februar. In den letzten drei Tagen des Hizir-Monats (13.-15. Februar) wird gefastet und eine Cem-Zeremonie abgehalten. Am 21. März findet das Newroz-Fest statt. Hier wird der Frühling begrüßt. Dem 21. März wird ein spezieller symbolischer Charakter zugeschrieben, weil an diesem Tag der Tag und Nach gleich lang sind und ab dem drauffolgenden Tag die Tage länger werden als die Nächte. Dieser Tag wird auch als die Geburtsstunde des Lichtes bezeichnet und dem Heiligen Ali zugeschrieben. Das Hidirellez-Fest (5./6. Mai), bei dem Hizir (Schutzengel des Landes) und Ilyas (Schutzengel des Meeres) Brüder wurden, wurde bereits weiter oben beschrieben. Eine weitere Feierlichkeit findet jährlich am 7. und 8. Juni in Antalya statt. Hierbei wird das dortige Dergah (Ordenzentrum) besucht und die Menschen gedenken Abdal Musa, einer zentralen Persönlichkeit aus dem 13./14. Jahrhundert und einem Schüler von Haci Bektasi Veli. Jedes Jahr am 2. Juli finden die Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Sivas-Massakers statt. Am 2. Juli 1993 wurde in Sivas ein Kulturfestival zu Ehren von Pir Sultan Abdal veranstaltet, an dem viele verschiedene Künstler, Dichter sowie Intellektuelle teilnahmen. Als ein Mob von Islamisten und Ultranationalisten vor den Augen von Sicherheitskräften das Hotel Madimak stürmten und anzündeten, kamen dort 35 Menschen ums Leben. Jährlich finden zu Ehren von und zum Gedenken an Hünkar Bektas Veli vom 15.-18. August in der Stadt Hacibektas (Nevsehir) die Haci-Bektas Feierlichkeiten statt. Hierbei strömen Aleviten von der ganzen Welt nach Hacibektas und nehmen an Vorträgen, Konzerten oder Cem-Zeremonien teil. Zudem findet (jedes Jahr 11 Tage früher) das 12-tägige bzw. 15-tägige Muharrem-Fasten zum Gedenken Imam Hüseyin statt, das mit dem Asure-Tag (13. Tag) beendet wird.

  • Laut Überlieferung führte Hz. Ali ein Leben nach den fünf Säulen des Islams. Wie können wir auf der einen Seite Hz. Ali verehren und auf der anderen Seite die fünf Säulen des Islams ablehen?

    Die Wahrnehmung des Heiligen Alis ist im Alevitentum anders als bei sunnitischen Muslimen. Hierbei muss man differenzieren zwischen der historischen Person Ali und der Symbolfigur Ali. Die Symbolfigur Ali steht im Alevitentum für eine gottesähnliche Lichtergestalt. Diese Lichtergestalt schenkt der Menschheit Erleuchtung, Aufklärung und Gerechtigkeit. Ali ist die Personifizierung des Widerstandes gegen die Tyrannei und Unterdrückung. Im Alevitentum beziehen wir uns auf diese Symbolfigur und nicht auf den historischen Ali.

  • Was ist der Unterschied zwischen dem Alevitentum und Schiitentum?

    Aleviten und Schiiten verehren den Heiligen Ali und weisen ihm eine besondere Stellung zu. Dies ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. Die Schia ist ein arabisches Phänomen und hat sich als religiöse Strömung innerhalb des Islams nach dem Jahre 632 entwickelt. Das Alevitentum hingegen ist in Anatolien entstanden und hat eine Tradition, die noch über das Aufkommen des Islams hinaus zurückreicht. Auch die theologischen Unterschiede wie z.B. die Schöpfungsgeschichte, das Gottes- und Menschenbild etc. sind verschieden. Unterschiede treten darüber hinaus bei Gebeten und Ritualen auf. Während die Aleviten etwa die Cem-Zeremonie als gemeinsamen Gottesdienst praktizieren und im Hizir-sowie im Muharrem-Monat fasten, verrichten Schiiten, wie auch die Sunniten, das rituelle islamische Gebet Namaz fünf Mal am Tag, fasten im Monat Ramadan und besuchen die Moschee.

  • Was bedeutet die Muharrem-Zeit für die Aleviten?

    Die Muharrem-Zeit ist eine Fasten-, Gedenk- und Besinnungszeit. Muharrem ist der erste Monat des arabischen Kalenders. Da der heilige Pir Imam Hüseyin in der Muharrem Zeit, am 10. Muharrem im Jahre 680, auf grausame Weise mit seiner Familie und seinen Gefährten massakriert wurde, gedenken die Aleviten seit jeher in dieser Zeit dem Heiligen Hüseyin und dem Massaker von Kerbela. Hierzu fasten die Aleviten 12 Tage zu Ehren des Heiligen Hüseyin und der 12 Imame, d.h. sie verzichten in dieser Zeit gänzlich auf Fleisch und versuchen bescheiden zu leben. Der Verzicht auf Fleisch soll dafür stehen, dass man in dieser Zeit keine Lebewesen tötet. Viele Aleviten fasten auch 15 Tage, d.h. sie beginnen bereits 3 Tage vor der Muharrem-Zeit mit dem Fasten und gedenken somit der 14 Masum-u Paklar (der 14 Reinen), damit sind die Kinder gemeint, die in Kerbela umkamen. Am letzten Abend vor dem Beginn der Muharrem-Fastenzeit beginnen traditionell bereits die Frauen mit dem Fasten. Sie gedenken damit der Heiligen Ana Fatma. Hier wird auch nochmal deutlich, wie wichtig die Stellung der Frau im Alevitentum ist.

  • Wer ist Ilyas?

    Der Heilige Ilyas ist wie der Heilige Hizir auch ein Schutzpatron im Alevitentum. Während Hizir der Schutzpatron auf dem Land ist, ist der Heilige Ilyas der Schutzpatron auf dem Meer. Nach der Überlieferung haben sich Hizir und Ilyas in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai getroffen und sich umarmt, sodass sie Brüder wurden. Deswegen feiern Aleviten am 5./6. Mai den Tag des Hizirilyas, was mit Hidirellez abgekürzt wird. Im Alevitentum begeht man das Hidirellez-Fest, indem die Gemeinde zusammenkommt und Feierlichkeiten zu Ehren von Hizir und Ilyas veranstaltet. Meist finden diese in der Natur statt.

  • Wer sind die Baba'i?

    Im 12. und 13. Jahrhundert herrschten die sogenannten Rum-Seldschuken (Anadolu Selçuklusu) in Anatolien. Die Rum-Seldschuken praktizierten als Staatsreligion den sunnitischen Islam. Die Herrschaftsform dieser Herrscherdynastie beutete das Volk aus. Insbesondere im 13. Jahrhundert herrschten große Konflikte zwischen den Seldschuken und der Bevölkerung Anatoliens. Daraufhin gab es einen Aufstand von der Bevölkerung, die von Baba Ishak und Baba Ilyas angeführt wurde. Die Anhänger dieser Bewegung nennt man daher auch Baba/i. Der Baba'i-Aufstand schaffte es, große Teile Anatoliens einzunehmen und die Bevölkerung von der Tyrannei der Seldschuken zu befreien. Allerdings schafften es die Seldschuken im 13. Jahrhundert mit der Unterstützung europäischer (fränkischer) Soldaten den Baba'i-Aufstand blutig niederzuschlagen. Baba ishak und Baba ilyas sowie viele Anhänger ihrer Bewegung wurden hingerichtet.

  • Wer ist Hizir?

    Hizir ist ein heiliger Schutzpatron der Aleviten, der zu Urzeiten gelebt hat und den Menschen geholfen hat. Er hat das sogenannte Abu Hayat, das Wasser der Ewigkeit getrunken und ist somit unsterblich. Hizir eilt den notbedürftigen Menschen zur Hilfe. Bei den Aleviten beginnt nach dem 14. Januar jedes Jahres der sogenannte Hizir-Monat und dauert bis zum 1 5. Februar. In dieser Zeit solidarisieren sich die Aleviten mit den Armen und Bedürftigen und mit ihren Nachbarn. Hierzu werden Lokmas (Gaben) verteilt und wohltätige spenden getätigt. In dieser Zeit fasten die Aleviten für den heiligen Hizir. Hierzu wird von Dienstag bis Donnerstag gefastet und am Ende des Hizir Monats, also am 13.- 15. Februar findet der sogenannte Hizir-Cem statt.